Webname:Mörike Gymnasium Göppingen
Seitenname:Stolpersteine und Leitbild
Seitentitel:Stolpersteine und Leitbild
Letzte Aktualisierung:30.07.2015
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© 2015 Mörike Gymnasium Göppingen

Stolpersteine und Leitbild

Unser Schulgebäude, ein prächtiger Bonatz-Bau, wurde 1911 fertiggestellt und bezogen. Zwei Weltkriege mit ihren Folgen hat die Schulgemeinde überstehen müssen. Erinnerungen daran finden sich in unserem Schularchiv. Die Liste der Kriegstoten unter den zum Kriegsdienst eingezogenen Lehrern und die Liste der jüdischen Schülerinnen, die unsere Schule nicht mehr weiter besuchen durften sind für uns Mahnzeichen. Nie mehr wollen wir solchen schrecklichen Handlungsstrukturen folgen müssen. Es gilt sie aktiv zu verhindern.

Die Leitbildkommission hat deshalb unsere historische Tradition und die damit verbundenen leidvollen aber auch positiven Erfahrungen in Wertvorstellungen einfliessen lassen, die uns allen eine gute Zukunft sichern sollen. Toleranz gegenüber den Mitmenschen und Einschreiten gegen jede Form von Rassismus sind darin zentrale Punkte.

 


 

Dass dieses Leitbild nicht nur aus klugen Sätzen und guten Absichten besteht, sondern von der Schulegemeinde mit Leben erfüllt wird, ist uns ein wichtiges Anliegen. Die von Schülern ausgehende Initiative, bei der Aktion "Schule gegen Rassismus" mitzumachen und die dazugehörige aktive Umsetzung, war ein großer Schritt in diese Richtung. Inzwischen wird unser Leitbild in allen Klassenstufen mit Leben erfüllt und ist auch zentraler Kern unserer Sozialkompetenzförderung.

 

Die Verlegung von fünf Stolpersteinen vor einem Haus in unserer Lutherstraße, in Nachbarschaft zu unserem Erweiterungsbau gab den Anlass zu einer inneren Auseinandersetzung mit dem Schicksal von fünf Opfern des Naziregimes, alles Mtglieder und Nahestehende der Familie  Frankfurter. Vier Schüler der Oberstufe erklärten sich bereit Referate über die äußeren Umstände dieses Schicksals zu halten. In einer feierlichen Aktion wurde das Leben der Opfer gewürdigt, ihrem Schicksal gedacht und die Stolpersteine verlegt. Einige Angehörige waren zum Teil von weit her gereist, um an dieser Gedenkfeier teilnehmen zu können. Unsere neue Mensa nahm die ganze Gruppe freundlich auf. Bald kam es zu einem regen Gespräch zwischen Referenten, Angehörigen und Zeitzeugen. Für die teilnehmenden Lehrer und Schüler zeigte sich auf wunderbar natürliche Art und Weise die Begegnung der Schule mit der realen Welt. Nur wenn wir uns erinnern und unsere Kinder sich auch erinnern, werden diese Schicksale zu kostbarem Unterricht.

Hier finden Sie die Referate.

G. H.


„Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“

Sehr geehrte Gäste,

 

auch wir heißen Sie herzlich willkommen zur heutigen Stolperstein-Verlegung im Gedenken an Sigmund, Hedwig und Jakob Frankfurter sowie Emilie Goldstein und Rosa Fleischer, geborene Goldstein.

Wir haben uns im Rahmen einer schulischen Arbeit mit dem Schicksal dieser Menschen beschäftigt. Persönliche Quellen wie Briefverkehr mit Verwandten und Freunden, zahlreiche Fotografien und Erzählungen von Zeitzeugen haben uns dabei geholfen, ein recht lebhaftes Bild von ihnen zu gewinnen. An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Herrn Maier-Rubner für die Bereitstellung dieser Quellen und die weitergehende Unterstützung bedanken.

 

Leider war es kaum jemandem der hier Anwesenden vergönnt, Emilie Goldstein, Rosa Fleischer  oder die Frankfurters persönlich gekannt zu haben. Lediglich Sie, Frau Adler und Frau Doctor durften Sigmund und Hedwig noch erleben. Dennoch möchten wir heute versuchen, Ihnen allen, so gut wie es möglich ist, einen Einblick in das Leben dieser Menschen und die Repressionen, die sie durch das verbrecherische Regime der NS-Zeit erfahren mussten, zu ermöglichen. Es war auch dieses Regime, das letztendlich für den Tod der Frankfurters, Rosa Fleischers und Emilie Goldsteins in den Konzentrationslagern von Theresienstadt und Auschwitz verantwortlich war.

 

Marcel Kübler

 

Doch beginnen wir etwa 80 Jahre früher.

Am 15.03.1866 wird Sigmund Frankfurter in einer jüdischen Familie geboren. Zwei Jahre später, am 27.01.1868 folgt sein Bruder Jakob. Während Jakob in seinem Leben nicht heiraten wird, findet Sigmund in Hedwig Epstein eine Ehefrau. Sie wurde am 05.09.1877 in Augsburg geboren, das Paar heiratete 1898. Die Brüder Frankfurter waren seit 1901 Gesellschafter in der familieneigenen Buntweberei, die sich in der Bahnhofstraße in Göppingen befand. Teile des Gebäudes sind noch vorhanden. Während Jakob eher gesellschaftlich zurückhaltend blieb, engagierte sich Sigmund verschiedentlich in Göppingen. So wurde er in das Amt des Vorstandes seiner Kirche 1921 gewählt und drei Jahre später wiedergewählt. Auch brachte sich Sigmund im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in der Ortsgruppe Göppingen ein. Neben seinem religiösen Engagement konnte er als Gesellschafter der Firma seine wirtschaftlichen Kenntnisse als Kassier des Israelischen Wohltätigkeitsvereins, als Handelsrichter und als Mitglied des Vorstandes der Ortskrankenkasse einbringen. Durch den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens kaufte Sigmund 1924 das Haus in der Lutherstraße 11, vor dem heute die Stolpersteine gelegt wurden.

Doris Doctor, Enkelin einer Schwester Sigmunds und Jakobs, die heute bei uns ist, hat noch einige Erinnerungen:

Persönlich gesehen war Sigmund ein recht freundlicher, lieber Mann. Durch seine Körpergröße machte er den Enkeln aber etwas Angst. Seine Frau Hedwig war eine liebe, lebhafte Person, die stets guter Laune war und besonders gut kochen konnte.

Sie freute sich darüber, dass Doris bei ihr so gut gegessen hatte, obwohl sie das eigentlich sonst nie tat.

Privat zeichnete sich die Familie Frankfurter durch familiären Zusammenhalt aus. Besonders pflegte das Ehepaar Frankfurter den Umgang mit näher oder weiter entfernten Verwandten, die oft zu Besuch waren. In jüngeren Jahren gab es auch die eine oder anderen Reise an den Bodensee zu Familienangehörigen.

In der Erinnerung der Hinterbliebenen wird Jakob als sehr beliebt bei den Kindern beschrieben. Denn wenn er einmal auf Besuch war, hatte er immer einen Koffer dabei, aus dem er wundervolle Dinge hervorzauberte. Neben seinen Zauberkünsten konnte Jakob auch gut Geschichten erzählen, von denen vielleicht noch ein paar im Gedächtnis der Angehörigen geblieben sind. Ebenso unternahm er öfters Ausflüge mit seinen Verwandten auf die Alb.

Neben den Frankfurters war auch die Familie Goldstein in Göppingen ansässig. Am 21.01.1874 kam die Tochter Rosa des Geschäftsmannes Martin Goldstein zur Welt. Fast zwei Jahre später, am 10.11.1875 folgte ihr Emilie. Beide Mädchen wurden in Göppingen geboren. Da das Herrenbekleidungsgeschäft des Vater insolvent wurde, waren die Kinder gezwungen, eine Ausbildung fernab des elterlichen Betriebes zu machen.

 

Emilie blieb der Branche des Vaters treu und lernte Korsettmacherin. In Köln, wo sie ihre Ausbildung gemacht hatte, lebte sie vermutlich zuerst mit ihrem Vater zusammen. Sie zog dann nach Bonn um, wo sie ein eigenes Korsettgeschäft betrieb. Rosa machte in Frankfurt am Main eine Ausbildung zur Krankenschwester in einer jüdischen Krankenpflegeschule. Dort arbeitete sie dann als Oberschwester in einem Krankenhaus. Durch ihre große Verwandtschaft in Göppingen wurde Rosa mit ihrem späteren Ehemann Leopold Fleischer bekannt gemacht. Sie heirateten 1904 und zogen nach Bad Cannstatt, wo Leopold Prokurist in einer Weberei war. Nach dem Tod Leopolds zogen beide Schwestern in das Altersheim in Heilbronn-Sontheim. Ihren Lebensunterhalt konnten sie mit einer kleinen Angestelltenrente von Emilie und durch Hinterlassenschaften von Rosas Mann Leopold finanzieren.

 

Die frühen Jahre der Familien Frankfurter und Goldstein unterscheiden sich nicht wesentlich von  nichtjüdischen Unternehmerfamilien in dieser Zeit. Auch war besonders die Buntweberei der Frankfurters ausschlaggebend für ihr Leben.

 

Alexander Stephan

 

Die Brüder Sigmund und Jakob Frankfurter übernahmen 1901 die Buntweberei ihres Vaters in Göppingen und bauten den Betrieb in der Folgezeit aus.

 

So wurde das Haupthaus ein vierstöckiges Gebäude, eine neue Färberei wurde angeschlossen und der Betrieb bot zu der Zeit 200 Menschen Arbeit.

Hergestellt wurden unter anderem Korsettstoffe.

Das Geschäft ging gut und das Unternehmen stand wirtschaftlich gut da.

Umso tragischer ist zu sehen mit welcher Dreistigkeit die Nationalsozialisten im Jahre 1938

der Familie das Unternehmen streitig machten:

Die Familie wurde dazu genötigt das Unternehmen, einen wichtigen Teil ihres Lebens, an nationalsozialistische Funktionäre zu verkaufen.

 

(Christoph Blessing)

 

Im November 1940 wird das jüdische Altersheim, in dem Rosa Fleischer und Emilie Goldstein gelebt haben, geschlossen. Die beiden Schwestern werden von Hedwig und Sigmund Frankfurter hier in Göppingen aufgenommen.

Dies war der Anfang mehrerer Geschehnisse, die letztlich zur Deportation und zum Tod Jakob, Sigmund und Hedwig Frankfurters sowie Rosa Fleischers und Emilie Goldsteins führten. Zu diesem Zeitpunkt ist Rosa Fleischers Gesundheitszustand bereits sehr schlecht und Hedwig Frankfurter schreibt dazu in einem Brief, sie sei blind und zuckerkrank, also könne man ihr nicht genug Liebes tun.

Bereits im August 1941, nicht einmal ein Jahr nachdem Rosa Fleischer und Emilie Goldstein zu den Frankfurters gezogen sind, kommen die beiden ins Zwangsaltersheim nach Herrlingen bei Ulm. Die Lebensbedingungen dort sind nicht besonders gut, da das Altersheim überfüllt ist.

Bereits ein weiteres Jahr später, am 7. Juli 1942, werden die beiden Schwestern in eine weitere Zwangsunterkunft nach Oberstotzingen verlegt. Für die blinde und zuckerkranke Rosa Fleischer eine große Belastung.

In der Zwischenzeit musste Jakob Frankfurter seine Wohnung in Stuttgart räumen und zog im Dezember 1941, 3 Monate nachdem Rosa Fleischer und Emilie Goldstein das Haus verlassen hatten, zu Sigmund und Hedwig Frankfurter nach Göppingen.

Versorgt wurde er dort, wie auch schon zuvor, durch seine Haushälterin Clara.

Emilie Eisele, im Hause Frankfurter Nana genannt, die nichtjüdische Helferin und Freundin von Sigmund und Hedwig, durfte hingegen nicht mehr bei den Frankfurters wohnen.

Hedwig Frankfurter schreibt dazu in einem Brief an ihre Freundin Thilde Gutmann: „Zu unserem großen Kummer kann Nana nicht mehr bei uns sein. Ich vermisse sie furchtbar und auch sie ist recht unglücklich darüber. Sie weiß nun gar nicht, was anfangen. Das waren sehr trübe Weihnachten, die wir heuer hatten.“ Wenig später, im Mai 1942, schreibt sie außerdem: „So lange Nana noch bei uns war, brachte wenigstens sie Frohsinn und Freude zu uns“

In diesen beiden Briefen sieht man besonders, wie der Terror der Nazizeit den Alltag von Hedwig, Sigmund und Jakob Frankfurter beeinflusst.

Am 19. August 1942 folgt schließlich die Deportation von Rosa Fleischer und Emilie Goldstein ins Konzentrationslager Theresienstadt, die dort am 22. August eintreffen. Nur wenige Tage später, am 28. August, werden auch Jakob, Sigmund und Hedwig Frankfurter nach Theresienstadt deportiert.

Bereits am 10. Dezember 1942 stirbt Jakob Frankfurter an den unmenschlichen Haftbedingungen.
Am 12. Dezember folgt der Tod Rosa Fleischers, ebenfalls an den tödlichen Haftbedingungen in Theresienstadt. Auch Sigmund Frankfurter stirbt nur wenige Tage später.
Im Jahr 1944 werden Emilie Goldstein und Hedwig Frankfurter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

(Patrick Jürgens)

 

Die Schicksale der Familie Frankfurter, Rosa Fleischers und Emilie Goldsteins sind Teil einer unvorstellbaren Geschichte des Massenmordes an den europäischen Juden und anderen, den Nationalsozialisten unliebsamen Menschen. Eine Geschichte, die nach dem Ende der deutschen Diktatur zunächst nur sehr zögerlich aufgearbeitet wurde und mit der man sich in den letzten Jahrzehnten dann äußerst intensiv und mit anhaltendem Interesse beschäftigt hat. Eine Geschichte, bei der die Masse der Opfer häufig den Blick auf die Schicksale Einzelner verstellt.

Häufig bestehen innerhalb jüngerer Generationen aufgrund fehlender Zeitzeugen Schwierigkeiten, sich auch nur annähernd eine Vorstellung des Holocaust zu verschaffen. Ein emotionaler Bezug ist  selbst für Menschen mittleren Alters nicht immer leicht herzustellen.

Deshalb ist es umso wichtiger und ist es gerade die Aufgabe unserer und folgender Generationen, den Opfern der Shoa ein Andenken zu setzen. Und ebenso ist es unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass  die Forderung „Nie wieder“ ihre Gültigkeit auch in Zukunft bewahrt. Ein Schritt in diese Richtung ist die heutige Verlegung der Stolpersteine für die Familie Frankfurter, für Rosa Fleischer und für Emilie Goldstein. Diese Steine werden die Göppinger beim Erleben der Gegenwart hoffentlich auch immer wieder einmal über ein ganz konkretes, persönliches Schicksal aus der Zeit der Unterdrückung durch die NS-Diktatur stolpern lassen.

Marcel Kübler