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Letzte Aktualisierung:30.09.2008
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Zwischen den Zeiten lesen



Zu den größten, nicht zu den bekanntesten Dichtern gehört Eduard Mörike, dessen 200. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Die Landschaften seiner Heimat haben das Werk des Schwaben beeinflusst, fern jeder Folklore. Wer aufmerksam Mörikes Lebenswege bereist, wird seine Lyrik differenzierter betrachten.

An einem Januarmorgen, kurz vor Sonnenaufgang. Im Rücken liegt das schlafende Dorf. Bis zur Sonntagsmesse ist noch Zeit. Eine Krähe macht sich wichtig, hinterlässt hoppelnd eine unbekannte Schrift im Schnee. Ansonsten reibt nur der harte Wind im Ohr. Dreizehn Grad unter Null, die Nase läuft davon, die Augen tränen. Im Osten ringt die Sonne erfolgreich mit der Nacht und offenbart ein rotes Band. Noch ein paar knirschende Schritte, dann ist er erreicht, der Mörikefelsen. Der Blick wandert übers Zipfelbachtal nach Hepsisau und Weilheim ins vulkanische Herz der Alb, wandert über gefrorene Äcker und weiß schimmernde Dächer. So viel zu sehen, so viel zu fühlen.


Und dann… obwohl man die Sinne konzentrieren wollte auf die Ankunft des neuen Tages, hat man den entscheidenden Augenblick fast verpasst. Hell ist es. Ein Kaffee wäre nun nicht schlecht. Aber in Ochsenwang, da wartet keiner auf einen ausgekühlten Wanderer. Und der Gedichtband in der Manteltasche wärmt die Finger auch nicht. An einem Januarmorgen, kurz nach Sonnenaufgang.
Die Stunde vor Tag gilt als die Stunde des Eduard Mörike. Einige seiner bekanntesten Gedicht widmete der 1804 in Ludwigsburg geborene Sohn des Stadt- und Amtsarztes Karl Friedrich Mörike dieser "flaumenleichten Zeit der dunkeln Früh". Immer wieder ist es die Zeit des Übergangs und Fließens, die dem lyrischen Ich zum emphatischen Moment der eigenen Seelenschau gerät. Rätselhafte Gefühle und Erinnerungen begehren auf gegen den bedrohlichen Lauf der Zeit - die leise, trotzige Revolte gegen das Unaufhaltsame.


Mörikes Stimmungsbilder, die mehrdeutig über dem sicheren Boden der Logik schweben gehören zum Schönsten, was die deutsche Lyrik je hervor gebracht hat. Biedermaier, Spätromantik, schwäbische Schule - die literaturwissenschaftlichen Zuschreibungen verwirren mehr als sie helfen, vielleicht weil sie zu sehr auf das Gesagte als auf Verschwiegenes abheben. "Derweil ich schlafend lag, / Ein Stündlein wohl vor Tag, / Sang vor dem Fenster auf dem Baum / Ein Schwälblein mir, ich hörte es kaum, / ein Stündlein wohl vor dem Tag", lautet die erste Strophe eines berühmten Gedichtes aus dem Jahr 1837, das den letzten Vers als Titel trägt und auf das erste Hören hin wie ein banales Volkslied daherkommt. Bald schon aber wird das "Schwälblein" zu dem das lyrische Ich in Liebe entbrannt ist.
Der scheinbaren Einfachheit eignet allerdings eine eigentümliche Tiefe: weil bis zum Gedichtschluss nicht klar wird, ob es sich um einen Traum handelt; und weil gerade die Schwalbe für das Thema der Eifersucht herhalten muss, ist doch dieser Vogel ansonsten in der Literatur nicht als Unglücks-, sondern als Liebesbote unterwegs. Lediglich dem Belesenen kommen Ovids Metamorphosen in den Sinn, wo Prokne ihre Schwester Philomena nach deren Vergewaltigung durch Theseus , Proknes Ehemann, rächt und in eine Schwalbe verwandelt wird. So sind Mörikes Gedichte, zumindest die herausragenden unter ihnen, leicht und schwierig zugleich, populistisch und elitär, oberflächlich und tiefgründig.


Bis heute blieb diese Qualität vielen verborgen, die unbewusst dem Verdikt eines Heinrich Heine folgen, der Mörike wohl in vormärzlicher Rage 1838 in seinem "Schwabenspiegel" mit den Worten verhöhnt: "Ein ganz ausgezeichneter Dichter der schwäbischen Schule, versichert man mir, ist Herr Mörike. Man sagt mir, er besinge nicht nur Maikäfer, sondern sogar Lerchen und Wachtel, was gewiss sehr löblich ist."
Dabei bildet die literarisch verdichtete Landschaft in all ihren Ausprägungen meist nur den äußeren Anlass zu einer Reise ins Innere, und dennoch ist sie eine notwendige Bedingung für Mörikes lyrische Höhenflüge. Der ländliche, nicht der städtische Raum steht im Mittelpunkt, auch in seinen Skizzen und Zeichnungen, die er seit seiner Jugend anfertigt, auf denen oft Kirchtürme aus kleinen Ansammlungen von Fachwerkhäusern aufragen. In Ochsenwang auf der Alb übernimmt er im Winter 1832 die Vikariatsstelle und wohnt im Gebäude gegenüber der evangelischen Pfarrkirche. Im selben Jahr erscheint sein einziger Roman, "Maler Nolten", der von der Kritik zwiespältig aufgenommen wird. Ein zentrales Motiv ist die Unvereinbarkeit von Broterwerb und künstlerischer Existenz, was im Grunde auch für Mörike selbst gilt: denn er hasst den ihm zugewiesenen Beruf des Geistlichen und quält sich gerade so und leidlich uninspiriert auf die Kanzel.


Wie andere seiner Generation geht auch Mörike den vorgezeichneten Ausbildungsweg eines Landpfarrers im protestantischen Württemberg: Klosterschüler in Urach (oder Maulbronn), anschließend Stiftler in Tübingen. Auch Hölderlin, Schelling, Strauß, Hegel und später Hesse durften die strengen Weihen dieser Erziehungsanstalten genießen. Wer kann, der flieht - in kultische Freundschaftsfeste, wirre Fantastereien, eingebildete Lieben und natürlich in die allerschönste Literatur. Mörike gehört auf diesen Gebieten zu den Talentiertesten.
Und dann, als das wahre, schnöde Leben nach dem Studium halt beginnen muss, befindet sich Mörike schon mitten in der "theologischen Mausfalle", wie es sein Freund aus Uracher Tagen, der streitbare Religionswissenschaftler David Friedrich Strauß treffend formuliert hat. Der junge Geistlich kommt viel, aber nicht weit herum: die achtjährige Vikariatszeit führt ihn von Oberboihingen, über Pflummern bei Riedlingen und Plattenhardt auf den Fildern nach Owen und Ochsenwang bis nach Cleversulzbach, wo ihm die Investitur zuteil wird. Um die Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag" zu verfassen, bedurfte es keiner wirklichen Kutschenfahrt ins Böhmische.
Seine ständig wiederkehrenden Depressionen und Erschöpfungszustände sind aber nicht die Folge dieser vermeintlichen "schwäbischen Enge", sondern vielmehr eine Reaktion auf die Erfordernisse seiner Profession. Die lästigen Predigten. Diese unwirschen Menschen. Manchmal bleibt er einfach morgens im Bett liegen und zieht sich die Decke über den Kopf. Oder schreibt. Was kaum jemand interessiert. Man beginnt zu lästern. Für seinen Pfarrkollegen Hartmann ist er nicht mehr als ein "faul's Luder". Mit 39 Jahren lässt er sich schließlich aus Krankheitsgründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Schwäbisch Hall, Bad Mergentheim, Nürtingen und endlich Stuttgart, wo er 1875 stirbt, sind seine nächsten Stationen. Für einen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts ein geradezu beschämender Aktionsradius.


Doch wer sich Mörikes Lebensspuren auf kleinen Ausflügen, Spaziergängen und Wanderungen nähert und sie mit dem literarischen Ertrag abgleicht, wird irgendwann erkennen, dass jede dieser südwestdeutschen Reisen eine Expedition in die Zeit, nicht durch den Raum ist. Kurz vor Sonnenaufgang in Ochsenwang den Winter spürend oder nach Sonnenuntergang auf dem Trillberg über Mergentheim ins Taubertal blickend - hier wie dort kann man die Landschaft mit einem Male wie das Ziffernblatt einer Uhr lesen. Und mit jedem Ticken verwandelt sich der nächste Schatten in Licht, der gerade noch hell beleuchtete Hügel in ein dunkles Tal, der Mantel aus Dunst in ein abgerissenes Regenbogenhemd. Der Reiz liegt in der Uneindeutigkeit des Landschaftsreliefs im Schwäbischen, das sich im Entstehen nicht festlegen wollte: weder Gebirge noch Ebene, ein ständiges Dazwischen und Schwanken, überall Schichtungen und Treppen, hier ein Öffnen, dort ein Verschließen - und jeder Schritt eine nochmalige Metamorphose. Seelentopografie.


Freilich kann man sich mit Mörikes Biografie in den Händen Petitessen erfreuen und so etwa in der Salzstadt Schwäbisch Hall eine Hausmauer auf ihren Salzgehalt ablecken wie es der Dichter tat. Oder neben dem Pfarrhaus, wo heute ein putziges Mörike-Museum zu finden ist, den wütenden Mörike imaginieren, wie der sich über dreiste Bauern erregt, die ihm wieder mal einige der besten Salatköpfe aus dem Garten gestohlen haben. Mörike als Kauz, natürlich, auch wenn's nicht neu ist.
Stets neu bleibt die Erfahrung eines zweiten, dritten Augenaufschlags, während am Horizont ein rotes Band hinter einer weißkalten Fläche lauert. Ein Blick in einen Zerrspiegel des verdrängten Gefühls, der Erinnerung an ein fremdes Ich. An einem Januarmorgen, irgendwo im Schwäbischen.

Tomo Pavlovic

(erschienen in Sonntag Aktuell am 1. 2. 04)